Wir
brauchen
klare
Prioritäten
DR. MARIE-LUISE WOLFF
UND MICHAEL VASSILIADIS
Die Vorstandsvorsitzende der ENTEGA AG, Dr. Marie-Luise Wolff, im Gespräch mit Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Gewerkschaft IGBCE, über den dringenden Handlungsbedarf zur Rettung des Klimas, die Notwendigkeit einer Industriestrategie, den Umbau der Wirtschaft und über die Voraussetzungen für das wirksame Handeln einer ganzen Gesellschaft.

Frau Wolff, Herr Vassiliadis: Deutschlands Wirtschaft muss sich transformieren. Welche gesellschaftlichen Folgen hat das und wie gehen wir damit um?

Michael Vassiliadis: Ich glaube, wenn wir in der Transformation nicht die sozialen und politischen Dimensionen mitdenken, verlieren wir die Zustimmung der Bevölkerung. Dabei darf es aber nicht mehr nur um eine karitative Sichtweise gehen. Sondern darum, die Chancen zu betonen. Im Moment reden wir nur über die Frage, wie wir die Lastenverteilung so organisieren können, dass es nicht ganz so weh tut oder dass jenen geholfen wird, die gar nicht mehr zurechtkommen. Was daran liegt, dass das Transformationsprojekt ein Elitenprojekt ist. Es ist sozusagen entwickelt und gedacht von Eliten, aber wenn man jetzt kein tragfähiges Konzept für die Gesamtgesellschaft daraus macht, wird es scheitern. Die Balance bei den Lasten muss sich aus meiner Sicht mit einem echten Fortschrittskonzept verbinden. Und dessen Ziel kann nicht nur in der Hoffnung bestehen, dass die Welt vielleicht doch noch nicht untergeht. Das allein ist zu abstrakt.

Wir bieten häufig Lösungen an, die keine sind. Das macht die Menschen ratlos.“
Michael Vassiliadis

Marie-Luise Wolff: Aber eine gewisse zeitliche Enge haben wir schon. Wenn wir weiterhin jedes Jahr 40 Milliarden Tonnen CO2 ausstoßen, werden uns bereits die Dreißiger- und Vierzigerjahre dieses Jahrhunderts zeigen, was Naturgewalten für unser Leben bedeuten. Das ist einfache Physik, daran braucht man nicht mehr herumzudeuteln. Von daher ist der zeitliche Druck unabweisbar. Trotzdem haben Sie völlig recht, für viele ist das zu abstrakt und es ist nicht einleuchtend, wenn man den Menschen sagt, ihr müsst euch jetzt teure Elektroautos kaufen, weil die Welt demnächst untergeht. Man hat eine gewisse Pflicht zur Inszenierung der Gefahren, wie Ulrich Beck einmal geschrieben hat. Aber es gibt eine noch größere Pflicht, sehr genau zu planen, welche Lasten für wen tragfähig sind und sein werden.

Mittendrin: Im Gebäude der DZ-Bank am Pariser Platz in Berlin verbinden sich Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ein idealer Treffpunkt für den Austausch der ENTEGA-Vorstandsvorsitzenden Dr. Marie-Luise Wolff mit dem IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis.

Viele Menschen erkennen den Handlungsbedarf nicht oder verweisen auf die Länder, die einen viel größeren CO2-Ausstoß verantworten. Wie können die Menschen aber hier im Land zum Handeln gebracht werden?

Michael Vassiliadis: Wir bieten häufig Lösungen an, die keine sind. Und das macht die Menschen nach meiner Erfahrung ratlos. Manchmal sogar mutlos, wenn sie sehen, dass getroffene Maßnahmen nicht nur für Einzelne untragbar werden, sondern obendrein auch nichts bis wenig zur Lösung der globalen Problematik beitragen. Von daher müssen wir eine globale Antwort finden und dabei auch zu Verteilungsgerechtigkeit kommen. Denn die Entwicklungsländer wollen sich nicht abschneiden lassen von dem Fortschritt, den wir Industrienationen gemacht haben. Von daher müssen wir mit den Hauptemittenten von CO2 in einen anderen Dialog kommen, sonst wird das nicht klappen.

Marie-Luise Wolff: Da bin ich völlig bei Ihnen. Wir können uns hier in Deutschland nicht freisprechen von den Reduktionspflichten, aber selbst wenn wir uns mit unseren Maßnahmen noch so viel Mühe geben: Falls wir es nicht schaffen sollten, zum Beispiel die Abholzung des Regenwalds zu verhindern, dann haben wir gar nichts erreicht. Deswegen wäre es so wichtig, dass wir global eine „Worst Things First“-Agenda erarbeiten und definieren, was die ersten zehn wichtigsten und wirkungsvollsten Dinge sind, bei denen wir jetzt ins Handeln kommen müssen. Da gehört der Schutz des Regenwalds dazu. Und wir kennen alle die anderen Themen, die angepackt werden müssten, um einen globalen Erfolg zu erringen. Alles das muss leider gleichzeitig passieren, sonst machen wir hier einen Inselbetrieb und der wird uns nicht retten.

Worst things first: Nur so kommen wir wirkungsvoll ins Handeln.“
Marie-Luise Wolff

Während wir auf eine solche internationale Agenda warten, müssen wir dennoch hier diesen Inselbetrieb ausbauen. Und ENTEGA ist ein Energieunternehmen, das die Infrastruktur für die künftige Energieversorgung schaffen muss. Was kommt da auf Deutschland zu, Frau Wolff?

Marie-Luise Wolff: Deutschland wird eine Großbaustelle werden, beispielsweise beim Aufbau von Fernwärmeleitungen. Jahrelang haben wir auf diese Möglichkeit hingewiesen, doch niemand wollte das hören. Nun ist Fernwärme aufgrund der gestiegenen Gaspreise wettbewerbsfähiger geworden. Auch sind zentrale Wärmeanlagen effizienter, das wissen wir schon lange. Aber die Abwärme in die Stadt zu bringen, bedeutet, Rohre von einem Meter Durchmesser mitten in der Straße zu verbauen. Allein das wird enorme Kosten verursachen und noch weiß keiner, wie es finanziert werden soll. Wir haben die Wärmewende inzwischen für die Stadt Darmstadt durchgerechnet und sind bei einer guten Milliarde Euro an Kosten gelandet. Die Kollegen in Frankfurt reden über drei bis sechs Milliarden Euro. Wir haben hier Finanzierungen vor uns, die wir mit den jetzigen Bilanzen nicht werden stemmen können. Wie bei dem Umbau der deutschen Wirtschaft braucht es auch für die Wärmewende eine solide Finanzierungsstrategie, wie Staat und Unternehmen das gemeinsam stemmen können.

Michael Vassiliadis: Stimmt. Ohne eine solide Finanzierung landen wir in der großen Frustration, nachdem wir halbe Strecken gegangen sind. Und die waren dann nicht nur teuer, sondern sie funktionieren auch nicht.

Marie-Luise Wolff: Das heißt doch aber auch: Wir brauchen eine Industriestrategie, die klare Prioritäten setzt und Berechenbarkeit schafft. Die energieintensiven Unternehmen laufen uns bereits davon und gehen an Standorte wie Henry Hub, Texas, Norwegen, Island oder Australien, wo es billigere Energie in großen Massen gibt, weil die Länder viel größer sind und die saisonalen Schwankungen ausfallen. Oder die Unternehmen lassen Vorprodukte woanders produzieren und setzen hier nur noch das intelligente Finish drauf. Das sind die Wege, von denen ich immer wieder höre. Im Moment ist aber noch ungeklärt, welchen dieser Wege wir gehen sollen. Wir handeln noch unkoordiniert. Beispielsweise beim Thema Wasserstoff. Da befürchte ich manchmal, dass wir uns einen Wasserstoffpreis herbeiträumen, den es nie geben wird. Ein Startnetz ist nun beschlossen, und alle sind froh, dass etwas Neues beginnt. Aber strategisch ist noch nicht entschieden, wer was bekommt und zu welchem Preis. Darüber müsste man noch intensiver sprechen, und zwar, bevor wir die Wasserstoffnetze bauen.

Michael Vassiliadis: Und: Wenn wir die Wasserstoffproduktion vor Augen haben, dann muss diese so zeitnah wie möglich grün sein, ansonsten macht es überhaupt keinen Sinn, da die Wasserstoffproduktion endotherm ist. Das heißt: Sie ist eigentlich eine Energievernichtung. Aber sie ist zumindest CO2-frei und das ist ja das eigentliche Argument. Aber hier sind die Rahmenbedingungen äußerst relevant, denn es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass die Standorte auf der Welt, wo erneuerbare Energie sehr günstig zur Verfügung steht, auch diejenigen Standorte sein müssen, die einen großen Teil des Wasserstoffs liefern. Der kommt dann gar nicht als Wasserstoff zu uns, jedenfalls nicht immer, sondern als Ammoniak oder als Derivat. Das muss verteilt werden, es muss den richtigen Preis haben und es schafft neue Lieferketten und Abhängigkeiten.

Deutschland wird eine Großbaustelle. Wir müssen klären, wo das Geld für den Umbau herkommen soll.“
Marie-Luise Wolff

Wie anfällig Lieferketten und internationale Handelsbeziehungen sein können, haben wir seit Corona und dem Ausbruch des Kriegs zu spüren bekommen. Macht es da Sinn, neue zu schaffen?

Marie-Luise Wolff: Das betrifft ja nicht nur den Wasserstoff. Wir brauchen für den Ausbau der erneuerbaren Energien fast immer viele wichtige Rohstoffe. Ob Photovoltaik, Windräder oder Stromnetzausbau: Immer brauchen wir Kupfer, Kobalt, Silizium, Seltene Erden und Metalle, die zu einem wesentlichen Teil aus Asien und im ganz wesentlichen Teil aus China kommen. Und das ist in der Tat eine gefährliche Abhängigkeit. Deswegen müssen wir uns in Europa über die Rohstoffförderung auf dem eigenen Kontinent Gedanken machen. Seltene Erden sind ja nicht selten, sondern sind in Gesteinen verborgen, die zersprengt werden müssen. Entsprechende Vorkommen werden in Norwegen und in Schweden geprüft. Die Gewinnung dort könnte umweltschonender organisiert werden, als das in China der Fall ist, aber wir brauchen zehn Jahre, bis so eine Mine steht. Das heißt, wir müssen heute anfangen. Handeln eben.

Michael Vassiliadis: Ein umweltschonenderer und ethisch und sozial vertretbarer Rohstoffabbau in Europa ist denkbar, wenn man die Nachhaltigkeitsdimension in der Zielsetzung von Anfang an mitdenkt. Da sind wir beim Thema Kreislaufwirtschaft und da kann die Industrie auch noch vieles verbessern.

Marie-Luise Wolff: Ganz zarte Versuche gibt es ja schon. Beim sogenannten Re-Manufacturing zum Beispiel. Da landet Elektroschrott nicht einfach in einer Presse, sondern man holt vorher das wieder raus, was noch gut zu brauchen ist – Silberfäden beispielsweise. Das setzt aber voraus, dass die Geräte auch schon entsprechend produziert werden. So etwas im großen Stil zu entwickeln – dafür wäre doch eigentlich der Ingenieurs-Standort Deutschland ideal geeignet.

Europa sollte mehr über die eigene Förderung von Rohstoffen nachdenken.“
Marie-Luise Wolff

Stattdessen heißt ,,Handeln“ hierzulande oft, Preisbremsen und neue Vorschriften für die Gebäudebeheizung ins Leben zu rufen. Wo verläuft die Grenze zwischen Handeln und Aktionismus?

Marie-Luise Wolff: Es sollte keine Interpretationsfrage sein, sondern an der Wirkung der Maßnahmen gemessen werden. Die Gaspreisbremse wie auch die Strompreisbremse und die Begrenzung der Kosten für Wärme einzuführen, war sicher kein Aktionismus. Diese Preisbremsen waren notwendig, und das Thema wurde von Anfang an gemeinsam mit allen Sozialpartnern verhandelt. Heute wissen wir, dass die Maßnahmen ihren Zweck erfüllt haben, denn wir hatten keine Ausfälle und keine großen Klagen zu verzeichnen.

Michael Vassiliadis: Das Instrument der Preisbremsen hat gewirkt. Wir haben vorher lange darüber diskutiert und in der Gaspreiskommission gemeinsam einen Weg gefunden. Das ist wichtig für die Menschen in diesen Zeiten, wo alles so bedrohlich wirkt und schnell der Eindruck entsteht, es funktioniert gar nichts – was ja so nicht stimmt.

Die Preisbremsen haben gewirkt. Das zeigt: Wir können durchaus gute Lösungen finden.“
Michael Vassiliadis

Mit dem Gebäudeenergiegesetz (GEG) wurde weiter gehandelt. Allerdings ist die Kritik hier sehr laut.

Marie-Luise Wolff: Mit allen Beteiligten an einem Tisch zu sitzen und gemeinsam eine Lösung zu finden, wäre auch beim GEG meines Erachtens besser gewesen. Aber dann hätte man natürlich auch länger für ein Ergebnis gebraucht, weil das GEG noch viel einschneidender wirkt und natürlich auch höhere Kosten mit sich bringt. Dennoch, solch weittragende Gesetze gehören besser vorbereitet. Daher könnte und sollte man, wenn es zukünftig um fundamental neue Regeln geht, verstärkt auf Kommissionen setzen, wenn viele Menschen betroffen sind. Konzeptionell und auch kommunikativ liegen darin gute Methoden, die sich in der Handlungsphase der Transformation weiter bewähren können.

Michael Vassiliadis: Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die Bundesregierung sich zum Ziel gesetzt hat, viele Prozesse im Rahmen der Transformation zu beschleunigen. Das darf aber nicht heißen, dass wir Dinge auf den Weg bringen, die danach erst auf politischer Ebene diskutiert werden und dort in einem Desaster enden. Das Heizungsgesetz zwingt die Wohnungswirtschaft ebenso wie Hausbesitzer dazu, die Frage zu beantworten, woher sie künftig die Energie bekommen und zu welchem Preis. Sie müssen jetzt investieren und sich auf neue Umstände einlassen, aber wenn diese Umstände nicht eindeutig klar sind, stößt das Vorhaben natürlich auf Verunsicherung und Widerstand.

Wie wird Deutschland aussehen, wenn das Gebäudeenergiegesetz nach der Wärmeplanung der Kommunen umgesetzt wird?

Michael Vassiliadis: Wir wollen eine grundlegende Veränderung der Wärmeversorgung erreichen, und das in einem Land, in dem der Gebäudebestand alt ist. Dafür müssen wir uns auch einen Zeitplan geben, denn es ist ja klar, dass der Umbau bei dem bestehenden Fachkräftemangel nicht überall auf einmal angegangen werden kann. Also muss man priorisieren und sich darüber klar werden, wo relativ gesehen das größte CO2-Einsparungspotenzial besteht. Ansonsten ist der Umbau dem Zufall oder dem meisten Geld überlassen.

Marie-Luise Wolff: Das stimmt zu einhundert Prozent. Wir müssen uns unbedingt über die Priorisierung unterhalten, denn wenn wir mit den Luxusvillen anfangen, wird das den CO2-Austoß kaum signifikant senken. Ein Start in den Ballungsräumen macht da schon deutlich mehr Sinn. Daher ist es auch richtig, dass die Großstädte vorangehen müssen. Von daher finde ich es auch wichtig, dass man das Vorgehen zwischen den Städten und ihren Versorgern gemeinsam festlegt, und dabei müssen Kosten und der CO2-Ausstoß die maßgebenden Kriterien sein. So ist das beim Handeln: Am meisten Aussicht auf Erfolg hat es, wenn die Ziele klar sind und auch die Maßstäbe, an denen später der Erfolg gemessen wird. Der Rest ist dann Koordination und auch: Guter Wille bei allen Beteiligten.

Michael Vassiliadis: Da ist ja auf allen Gebieten noch Luft nach oben!

Frau Wolff, Herr Vassiliadis – besten Dank für das Gespräch.