VISIONEN?
Nicht immer erzielt Kunst im öffentlichen Raum die Wirkung, die sich ihre Macher vorstellen. Vor über einem Jahrzehnt aber beschriftete eine Architektur-Kampagne städtische Gehwege mit den Worten „Blick heben“. Kaum waren die Buchstaben aufgebracht, sah man Menschen in den Straßen, die der Aufforderung gerne folgten – und damit neue Entdeckungen machten.
Manche erblickten erstmals bewusst eine sehenswerte Fassade. Andere erfreuten sich schlicht am blauen Himmel. Niemanden aber ereilte das Schicksal des sprichwörtlichen „Hans-guck-in-die-Luft“. Keiner verlor durch den gehobenen Blick die Hindernisse der Ebene aus dem Auge. Schon gar nicht wurde von Passanten auf Abwegen berichtet. Solchen etwa, die versucht hätten, gen Himmel zu klettern oder Fassaden zu besteigen. Trotzdem erlebten die Stadt-Menschen einen „visionären“ Moment. Einen Ausblick auf Ungewohntes und Neues, auf unter Umständen Machbares. Auf Möglichkeitsräume.
Aber: Ist derlei überhaupt hilfreich? Sollten wir uns statt an undeutliche „Visionen“ nicht lieber an konkrete und vor allem messbare Ziele halten? Einen Weg dorthin definieren? Und dann wohlüberlegt und hochkonzentriert einen Fuß vor den anderen setzen? Dabei sorgsam auf Unebenheiten und Stolperfallen achtend? So jedenfalls lehrt es die Schule des Realismus – im Alltag nicht anders als im Tagesgeschäft von Wirtschaft und Politik. Visionären hingegen wird der Besuch eines Arztes empfohlen.
Die Kunstaktion im öffentlichen Raum aber zeigt: Es ist möglich, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Sprich: zielführend einen Weg verfolgen und dabei dennoch hin und wieder mal den Blick heben. Der visionäre Ausblick nimmt dann nicht einfach nur ein ferner liegendes Ziel ins Auge. Er ist mehr ein Akt der Umsicht. Die Erinnerung daran, dass das Nächstliegende nicht zwingend identisch ist mit dem Wichtigsten.
Sicher: Eine neue Regierung zum Beispiel, die Mühen der Ebene in langwierigen Koalitionsverhandlungen, Steuergesetze und dergleichen prägen das Leben vieler Millionen Menschen. Und im Unternehmen entscheiden mitunter kleinteilige Kennzahlen der Bilanz oder das Kleingedruckte kluger Verträge über Erfolg und Misserfolg am Markt.
Aber gerade jene, die in derlei Details aus guten Gründen tief verstrickt sind, tun gut daran, immer wieder mal den Blick zu heben. Und ihn auf die Aufgaben jenseits des Nächstliegenden zu richten. Auf die Bekämpfung des Klimawandels zum Beispiel oder auf das Management seiner Folgen, um nur eines der Damoklesschwerter zu nennen, die derzeit über den Köpfen der Menschen schweben – und die deshalb allzu schnell aus dem Blick verliert, wer nur auf die eigenen Füße schaut. Stattdessen drängt sich erst bei solcher Art der Umsicht die Frage auf: Ist der eingeschlagene Weg eigentlich der richtige? Wie steht es um die Sinnhaftigkeit der Ziele, um deren Erreichung wir uns Tag für Tag so konzentriert bemühen?
Der vorliegende Geschäftsbericht gibt Auskunft über Fortschritte in der Ebene. Aber er handelt auch von dem, was jenseits des täglichen Horizonts in den Blick gerät. Denn wer den nachhaltigen Erfolg sucht, achtet nicht nur auf das Gelingen des nächsten Schritts oder die verbleibende Distanz zu handfesten Zielen. Sondern auch: auf die weiteren Aussichten.