THOMAS SCHMIDT
UND
PROF. DR. DR. H. C. MIRA MEZINI
WIR MÜSSEN UNS
SELBST GESETZE GEBEN
Schafft die Digitalisierung neue Freiheiten oder neue Abhängigkeiten? Was passiert, wenn Maschinen Menschen ersetzen? Und wo sind die Grenzen der Digitalisierung? Ein Gespräch zwischen Thomas Schmidt, Vorstand Handel und Vertrieb der ENTEGA AG, und Prof. Dr. Dr. h. c. Mira Mezini, Leiterin des Fachgebietes Softwaretechnik an der TU Darmstadt.

Frau Mezini, was bedeutet Freiheit für Sie als Wissenschaftlerin?

M.M. Frei bin ich, wenn ich selbstbestimmt meine eigenen Ideen, Vorstellungen und Ziele verfolgen und verwirklichen kann – dies natürlich im Einklang und in der Wechselwirkung mit der Freiheit anderer. Freiheit gilt ja nicht uneingeschränkt. Und sie verlangt einem die Fähigkeit ab, sich selbst Regeln zu geben.

Da sind Sie als Wissenschaftlerin ja genau am richtigen Ort?

M.M. Als Forscherin in einem Land, in dem die Freiheit der Forschung einen sehr hohen Stellenwert hat, ist mit meiner Arbeit ein großer Grad an Freiheit verbunden. Ich kann meine Forschungsagenda weitgehend selbstbestimmt definieren und dadurch flexibel auf neue Erkenntnisse, Chancen und Herausforderungen reagieren. Auch kann ich bis zu einem gewissen Maß flexibel entscheiden, wie ich meine Arbeitszeit aufteile und wo ich arbeite – alles, was ich für meine Forschung brauche, ist oft mehr oder weniger mein Kopf und der Laptop. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Work-Life-Balance verloren geht und der Anteil der Arbeit den des Lebens deutlich übersteigt. Dann kommt die Selbstgesetzgebung ins Spiel, die auch zur Freiheit gehört. Denn es ist ja meine eigene Entscheidung, ob ich am Wochenende oder bis nachts noch arbeiten möchte.

Offener Diskurs: Ob Hörsaal oder Online-Vorlesung – freie Wissenschaft ermöglicht neue Impulse.

,,Freiheit bedeutet auch, dass wir uns selbst Gesetze geben müssen.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Mira Mezini

Und für Sie, Herr Schmidt?

T.S. Mir persönlich sind die Handlungs und Gestaltungsfreiheit sehr wichtig. Das war der wesentliche Grund, warum ich direkt nach meinem Studium ein eigenes Unternehmen gegründet habe. Aber auch nach meinem Wechsel in die Energiebranche habe ich mich immer in Strukturen bewegt, in denen ich viel Handlungs- und Gestaltungsfreiheit hatte. Bei ENTEGA geht das mit einer auf Vertrauen basierenden Unternehmens- und Führungskultur einher. Daher versuche ich bei meiner Arbeit, den Menschen zu vertrauen, einen Rahmen für eigenverantwortliches Handeln zu schaffen und so die Organisation auf gemeinsame Ziele und auf Kooperation auszurichten.

,,Wir müssen bestehende Abhängigkeiten gänzlich auflösen.“
Thomas Schmidt

Von einem auf den anderen Tag geriet die Freiheit im internationalen Handel mit Energie(-trägern) in Gefahr. Hatten Sie als Leiter des Vertriebs der ENTEGA ein solches Szenario je vor Augen?

T.S. Nein, das hatte ich ehrlich gesagt nicht. Und der Begriff Zeitenwende, wie ihn der Bundeskanzler nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verwandt hat, gilt auch für die energiepolitische Situation. Abhängigkeit ist so ziemlich das Gegenteil von Freiheit. Und wie nahezu alle Energieversorger in Deutschland ist auch ENTEGA von den russischen Gasimporten abhängig, wenn auch in sinkendem und in geringerem Maße als andere. Wir produzieren zwar hauptsächlich Öko-Strom, aber wenn Sonne und Wind ausfallen, müssen wir ja Strom mit Gas produzieren. Echte Versorgungssicherheit ist deshalb nur zu gewährleisten, wenn wir bestehende Abhängigkeiten gänzlich auflösen. Und genau daran arbeiten wir.

Auch mithilfe der Digitalisierung? Immerhin, so heißt es, könnte sie uns von vielen Tätigkeiten und Aufgaben befreien. Aber bringt die Digitalisierung wirklich neue Freiheiten?

M.M. Spätestens die Pandemie, aber auch die Ukraine-Krise haben uns eindrucksvoll vor Augen geführt, wie uns die Digitalisierung von den Zwängen der physikalischen Präsenz befreit. Wir können im Homeoffice gleichzeitig zu Hause und in der Welt sein und mit einem Mausklick von Frankfurt nach Boston und von da nach Madrid klicken. Und ukrainische Lehrerinnen und Lehrer unterrichten geflüchtete Kinder, die auf ganz Europa verteilt sind. Die Automatisierung von Verwaltungsprozessen ermöglicht es geflüchteten Ukrainern und Ukrainerinnen, ihre Identität auch auf der Flucht wieder nachweisen zu können. An diesen wenigen Beispielen sieht man, wie sich durch die Digitalisierung weite Teile der Wirtschaft und Gesellschaft immer präziser steuern lassen.

Klare Begrenzung: Damit die positiven Aspekte der Digitalisierung überwiegen, sind einige Regeln notwendig.

Wenn alles immer besser gesteuert werden kann, ist diese ,,digitalisierte Freiheit“ am Ende nur eine neue Form der zentralen Abhängigkeit, in der wir uns wiederfinden?

M.M. Es gibt nun mal keinen „free lunch”. Wir müssen etwas tun, damit die positiven Effekte der Digitalisierung und Automatisierung überwiegen. Wie ich anfangs schon sagte: Freiheit bedeutet auch, dass man sich selbst Gesetze geben muss.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die Zukunft des Vertriebs bei ENTEGA?

T.S. Die Kunden erwarten heute einfache, schnell verfügbare und durchgängige Produkte, Prozesse und Services. Sie wollen jederzeit prüfen können, an welcher Stelle sich ein Prozess wie beispielsweise die Lieferung einer PV-Anlage oder Wallbox befindet. Hier hat Amazon schon vor vielen Jahren den Weg aufgezeigt und die Messlatte sehr hoch gelegt. Unternehmen, die diese Anforderung nicht erfüllen, gefährden ihre Zukunftsfähigkeit. Ebenso gefährden sie ihre Zukunft, wenn sie bei der Automatisierung von Prozessen nur die Unternehmenssicht einnehmen; wenn sie nicht den konkreten Kundennutzen in den Vordergrund stellen, sondern zu sehr auf die eigene Effizienz und auf Kostensenkungen bedacht sind.

,,Wir werden Mini-Rechner mit Solarenergie betreiben und Daten in Molekülen sichern.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Mira Mezini

Frau Mezini, viele digitale Dienste und Services sind von der Stromversorgung abhängig. Welche Rolle spielt in der Forschung das Bestreben, diese Zahl zu minimieren?

M.M. Die Abhängigkeit von der Stromversorgung zu reduzieren, spielt in der IT-Forschung schon seit längerer Zeit eine sehr große Rolle. Dazu wird in ganz unterschiedlichen Richtungen geforscht. Im LOEWE Zentrum emergenCity der TU Darmstadt arbeiten wir beispielsweise interdisziplinär daran, unsere digitalen Dienste und Services resilienter gegen Stromausfälle und Katastrophen zu machen, bei denen das zentrale Internet nicht verfügbar ist. Seit Langem arbeiten Forscherinnen und Forscher auch schon an der Entwicklung energieeffizienterer Hardware, um den Stromverbrauch großer Datenzentren zu senken. Andere Forscher entwerfen neuartige Mini-Rechner, die mit Sonnenenergie betrieben werden. In wieder anderen transdisziplinären Lösungsansätzen wird die Langzeitspeicherung von digitalen Daten in DNA-Molekülen erforscht. Und wieder an anderer Stelle geht es darum, die Abwärme aus Rechenzentren in städtischen Quartieren sinnvoll zu nutzen. Darüber hinaus können IT-Methoden, insbesondere auch Künstliche Intelligenz (KI) und Data-Science, helfen, Energie effizienter einzusetzen. KI kommt auch in der Energiewirtschaft immer stärker zum Einsatz – beispielsweise bei der intelligenten Steuerung von Stromnetzen und dem Zusammenwachsen der Energiesektoren Strom, Wärme und Verkehr.

Wie kann Künstliche Intelligenz den Vertrieb unterstützen?

T.S. Wir setzen KI bereits im Vertrieb ein und ermitteln auf Basis von Daten und Algorithmen, für welche Produkte unsere Kunden eine Affinität haben. Man kennt das aus den eigenen Kauferfahrungen: Nach dem Onlinekauf eines Produktes heißt es: „Kunden, die dieses Produkt gekauft haben – haben auch dieses Produkt gekauft“. Zudem setzen wir bei ENTEGA in Kürze einen Chatbot ein, der in der Lage ist, bestimmte Kundenanfragen vollautomatisiert zu beantworten. Aus meiner Sicht profitieren die Kunden von diesen auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten und Produkten oder im Falle des Chatbots von einem Service, der 365 Tage im Jahr rund um die Uhr zur Verfügung steht.

,,Eins kann keine KI ersetzen: Empathie.“
Thomas Schmidt

Werden Kunden demnächst nur noch mit Chatbots telefonieren und sich durch endlose Helplines klicken?

M.M. Maschinen oder die KI sind da, um Menschen dort zu unterstützen, wo sie schwach sind oder wo ihre Kapazitäten begrenzt sind. Menschen und Maschinen können voneinander lernen und gemeinsam viel stärker sein als jeder für sich alleine. KI-Systeme können beispielsweise Unmengen von Röntgenbildern blitzschnell miteinander vergleichen und die Muster darin womöglich genauer oder schneller erkennen als ein Radiologe. Aber nur der Radiologe kann gemeinsam mit seinen Kollegen die Empfehlung der Maschine in einen größeren Kontext setzen. Die Zeit, die die Ärzte dank der KI bei der Diagnostik gewinnen, können sie den Patienten widmen.

T.S. Ich bin seit rund 25 Jahren im Service und Vertrieb tätig. Und was sich trotz – oder vielleicht auch wegen – all der Automatisierungsbestrebungen nicht geändert hat, ist, dass die Kundenerwartung an den Service eines Unternehmens vor allem zwei Dinge umfasst: eine hohe Lösungsorientierung und Empathie. Letzteres kann keine KI aufbringen. Von daher wird es bei ENTEGA immer Mitarbeitende aus Fleisch und Blut geben, die sich um die Kunden kümmern.

Frau Mezini, Herr Schmidt, herzlichen Dank für das Gespräch.

Im Februar war der Krieg über Nacht in die Kiewer Schlafzimmer gekommen. Atemlos lauschte ich dem Bericht eines Lyrikers, der den Angriff miterlebt hatte. Seine Stimme vibrierte vor Panik. Dabei fielen mir Irinas Worte wieder ein. Meine Freundin lebt seit vielen dreißig Jahren in Deutschland. Vor dem Krieg diskutierten wir über eine mögliche Impfpflicht. „Diesen Polizeistaat kann ich bald nicht mehr ertragen!“, schimpfte sie. „Wo glaubst du denn, dass es besser ist?“, fragte ich. „In Russland“, entgegnete sie post- wendend. „Dort habe ich mich frei gefühlt.“ Ich sah sie entgeistert an, konnte nur hilflos den Kopf schütteln.

Am Morgen nach jener ersten Schreckensnacht rief sie mich an, erzählte mir unter Tränen, dass sie die Kinder ihrer Schwester erwarte. „Hast du die beiden Teddybären noch?“, fragte sie unvermittelt. Seit dem Tod meiner Mutter, die sie einst genäht hatte, fristete das Plüschpaar ein Dasein im Keller. Endlich würde ihr Leben einen Sinn bekommen.

Eine Woche später landete ein Foto auf meinem Handy. Es zeigt ein Mädchen und Jungen vor dem Eichenholzschrank in Irinas Wohnzimmer. Beide blond und blass, Fremdheit in den Augen. Aber sie kuscheln mit den Teddybären – in Freiheit.

Vielleicht hatte Irina die Freiheit des Kindseins gemeint, die uns Erwachsenen für immer verschlossen bleibt.

Ingrid Walter