Frau Mezini, was bedeutet Freiheit
für Sie als Wissenschaftlerin?
M.M. Frei bin ich, wenn ich selbstbestimmt
meine eigenen Ideen, Vorstellungen
und Ziele verfolgen und verwirklichen
kann – dies natürlich im Einklang
und in der Wechselwirkung mit der Freiheit
anderer. Freiheit gilt ja nicht uneingeschränkt.
Und sie verlangt einem die
Fähigkeit ab, sich selbst Regeln zu geben.
Da sind Sie als Wissenschaftlerin ja
genau am richtigen Ort?
M.M. Als Forscherin in einem Land,
in dem die Freiheit der Forschung einen
sehr hohen Stellenwert hat, ist mit
meiner Arbeit ein großer Grad an Freiheit
verbunden. Ich kann meine Forschungsagenda
weitgehend selbstbestimmt definieren
und dadurch flexibel auf neue
Erkenntnisse, Chancen und Herausforderungen
reagieren. Auch kann ich bis zu
einem gewissen Maß flexibel entscheiden,
wie ich meine Arbeitszeit aufteile
und wo ich arbeite – alles, was ich für
meine Forschung brauche, ist oft mehr
oder weniger mein Kopf und der Laptop.
Allerdings besteht die Gefahr, dass die
Work-Life-Balance verloren geht und der
Anteil der Arbeit den des Lebens deutlich
übersteigt. Dann kommt die Selbstgesetzgebung
ins Spiel, die auch zur Freiheit
gehört. Denn es ist ja meine eigene Entscheidung,
ob ich am Wochenende oder
bis nachts noch arbeiten möchte.
Offener Diskurs: Ob Hörsaal oder Online-Vorlesung – freie Wissenschaft ermöglicht neue Impulse.
,,Freiheit bedeutet
auch, dass wir
uns selbst Gesetze
geben müssen.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Mira Mezini
Und für Sie, Herr Schmidt?
T.S. Mir persönlich sind die Handlungs und
Gestaltungsfreiheit sehr wichtig.
Das war der wesentliche Grund, warum
ich direkt nach meinem Studium ein
eigenes Unternehmen gegründet habe.
Aber auch nach meinem Wechsel in die
Energiebranche habe ich mich immer
in Strukturen bewegt, in denen ich viel
Handlungs- und Gestaltungsfreiheit
hatte. Bei ENTEGA geht das mit einer
auf Vertrauen basierenden Unternehmens-
und Führungskultur einher.
Daher versuche ich bei meiner Arbeit,
den Menschen zu vertrauen, einen
Rahmen für eigenverantwortliches
Handeln zu schaffen und so die Organisation
auf gemeinsame Ziele und auf
Kooperation auszurichten.
,,Wir müssen bestehende Abhängigkeiten gänzlich auflösen.“
Thomas Schmidt
Von einem auf den anderen Tag
geriet die Freiheit im internationalen
Handel mit Energie(-trägern)
in Gefahr. Hatten Sie als Leiter des
Vertriebs der ENTEGA ein solches
Szenario je vor Augen?
T.S. Nein, das hatte ich ehrlich gesagt
nicht. Und der Begriff Zeitenwende,
wie ihn der Bundeskanzler nach dem
russischen Einmarsch in die Ukraine
verwandt hat, gilt auch für die energiepolitische
Situation. Abhängigkeit ist
so ziemlich das Gegenteil von Freiheit.
Und wie nahezu alle Energieversorger
in Deutschland ist auch ENTEGA von
den russischen Gasimporten abhängig,
wenn auch in sinkendem und in geringerem
Maße als andere. Wir produzieren
zwar hauptsächlich Öko-Strom, aber
wenn Sonne und Wind ausfallen, müssen
wir ja Strom mit Gas produzieren. Echte
Versorgungssicherheit ist deshalb nur zu
gewährleisten, wenn wir bestehende
Abhängigkeiten gänzlich auflösen. Und
genau daran arbeiten wir.
Auch mithilfe der Digitalisierung?
Immerhin, so heißt es, könnte
sie uns von vielen Tätigkeiten und
Aufgaben befreien. Aber bringt
die Digitalisierung wirklich neue
Freiheiten?
M.M. Spätestens die Pandemie, aber
auch die Ukraine-Krise haben uns eindrucksvoll
vor Augen geführt, wie uns
die Digitalisierung von den Zwängen
der physikalischen Präsenz befreit. Wir
können im Homeoffice gleichzeitig zu
Hause und in der Welt sein und mit einem
Mausklick von Frankfurt nach Boston
und von da nach Madrid klicken. Und
ukrainische Lehrerinnen und Lehrer
unterrichten geflüchtete Kinder, die auf
ganz Europa verteilt sind. Die Automatisierung
von Verwaltungsprozessen
ermöglicht es geflüchteten Ukrainern
und Ukrainerinnen, ihre Identität auch
auf der Flucht wieder nachweisen zu
können. An diesen wenigen Beispielen
sieht man, wie sich durch die Digitalisierung
weite Teile der Wirtschaft und
Gesellschaft immer präziser steuern
lassen.
Klare Begrenzung: Damit die positiven Aspekte der Digitalisierung überwiegen, sind einige Regeln notwendig.
Wenn alles immer besser gesteuert
werden kann, ist diese ,,digitalisierte
Freiheit“ am Ende nur eine neue
Form der zentralen Abhängigkeit,
in der wir uns wiederfinden?
M.M. Es gibt nun mal keinen „free lunch”.
Wir müssen etwas tun, damit die positiven
Effekte der Digitalisierung und Automatisierung
überwiegen. Wie ich anfangs
schon sagte: Freiheit bedeutet auch, dass
man sich selbst Gesetze geben muss.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung
für die Zukunft des Vertriebs
bei ENTEGA?
T.S. Die Kunden erwarten heute einfache,
schnell verfügbare und durchgängige
Produkte, Prozesse und Services.
Sie wollen jederzeit prüfen können, an
welcher Stelle sich ein Prozess wie beispielsweise
die Lieferung einer PV-Anlage
oder Wallbox befindet. Hier hat Amazon
schon vor vielen Jahren den Weg aufgezeigt
und die Messlatte sehr hoch gelegt.
Unternehmen, die diese Anforderung
nicht erfüllen, gefährden ihre Zukunftsfähigkeit.
Ebenso gefährden sie ihre
Zukunft, wenn sie bei der Automatisierung
von Prozessen nur die Unternehmenssicht
einnehmen; wenn sie nicht
den konkreten Kundennutzen in den
Vordergrund stellen, sondern zu sehr
auf die eigene Effizienz und auf Kostensenkungen
bedacht sind.
,,Wir werden Mini-Rechner mit Solarenergie betreiben und Daten in Molekülen sichern.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Mira Mezini
Frau Mezini, viele digitale Dienste
und Services sind von der Stromversorgung
abhängig. Welche Rolle
spielt in der Forschung das Bestreben,
diese Zahl zu minimieren?
M.M. Die Abhängigkeit von der Stromversorgung
zu reduzieren, spielt in der
IT-Forschung schon seit längerer Zeit
eine sehr große Rolle. Dazu wird in ganz
unterschiedlichen Richtungen geforscht.
Im LOEWE Zentrum emergenCity der
TU Darmstadt arbeiten wir beispielsweise
interdisziplinär daran, unsere
digitalen Dienste und Services resilienter
gegen Stromausfälle und Katastrophen
zu machen, bei denen das zentrale
Internet nicht verfügbar ist. Seit Langem
arbeiten Forscherinnen und Forscher
auch schon an der Entwicklung energieeffizienterer
Hardware, um den Stromverbrauch
großer Datenzentren zu senken.
Andere Forscher entwerfen neuartige
Mini-Rechner, die mit Sonnenenergie
betrieben werden.
In wieder anderen transdisziplinären
Lösungsansätzen wird die Langzeitspeicherung
von digitalen Daten in
DNA-Molekülen erforscht. Und wieder
an anderer Stelle geht es darum, die
Abwärme aus Rechenzentren in städtischen
Quartieren sinnvoll zu nutzen.
Darüber hinaus können IT-Methoden,
insbesondere auch Künstliche Intelligenz
(KI) und Data-Science, helfen, Energie
effizienter einzusetzen. KI kommt
auch in der Energiewirtschaft immer
stärker zum Einsatz – beispielsweise
bei der intelligenten Steuerung von
Stromnetzen und dem Zusammenwachsen
der Energiesektoren Strom,
Wärme und Verkehr.
Wie kann Künstliche Intelligenz
den Vertrieb unterstützen?
T.S. Wir setzen KI bereits im Vertrieb
ein und ermitteln auf Basis von Daten
und Algorithmen, für welche Produkte
unsere Kunden eine Affinität haben.
Man kennt das aus den eigenen Kauferfahrungen:
Nach dem Onlinekauf
eines Produktes heißt es: „Kunden,
die dieses Produkt gekauft haben –
haben auch dieses Produkt gekauft“.
Zudem setzen wir bei ENTEGA in Kürze
einen Chatbot ein, der in der Lage ist,
bestimmte Kundenanfragen vollautomatisiert
zu beantworten. Aus meiner
Sicht profitieren die Kunden von diesen
auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen
Angeboten und Produkten
oder im Falle des Chatbots von einem
Service, der 365 Tage im Jahr rund um
die Uhr zur Verfügung steht.
,,Eins kann keine KI ersetzen: Empathie.“
Thomas Schmidt
Werden Kunden demnächst nur
noch mit Chatbots telefonieren
und sich durch endlose Helplines
klicken?
M.M. Maschinen oder die KI sind da, um
Menschen dort zu unterstützen, wo
sie schwach sind oder wo ihre Kapazitäten
begrenzt sind. Menschen und
Maschinen können voneinander lernen
und gemeinsam viel stärker sein als
jeder für sich alleine. KI-Systeme können
beispielsweise Unmengen von Röntgenbildern
blitzschnell miteinander vergleichen
und die Muster darin womöglich
genauer oder schneller erkennen als
ein Radiologe. Aber nur der Radiologe
kann gemeinsam mit seinen Kollegen
die Empfehlung der Maschine in einen
größeren Kontext setzen. Die Zeit, die
die Ärzte dank der KI bei der Diagnostik
gewinnen, können sie den Patienten
widmen.
T.S. Ich bin seit rund 25 Jahren im
Service und Vertrieb tätig. Und was sich
trotz – oder vielleicht auch wegen – all
der Automatisierungsbestrebungen nicht
geändert hat, ist, dass die Kundenerwartung
an den Service eines Unternehmens
vor allem zwei Dinge umfasst: eine hohe
Lösungsorientierung und Empathie.
Letzteres kann keine KI aufbringen. Von
daher wird es bei ENTEGA immer Mitarbeitende
aus Fleisch und Blut geben,
die sich um die Kunden kümmern.
Frau Mezini, Herr Schmidt,
herzlichen Dank für das Gespräch.