DR. MARIE-LUISE WOLFF
UND
PROF. DR. HARALD WELZER
WERDEN WIR FREI
GEWESEN SEIN
Wie vertragen sich die Notwendigkeiten des Klimaschutzes mit den Freiheitsrechten der Einzelnen? Und was könnte an die Stelle einer ausschließlich wachstumsorientierten Wirtschaft treten? Ein Gespräch zwischen der Vorstandsvorsitzenden der ENTEGA AG, Dr. Marie-Luise Wolff, und dem Soziologen Prof. Dr. Harald Welzer.

Herr Welzer, was verbinden Sie persönlich mit dem Begriff der Freiheit?

H.W. Die Freiheit steht im Mittelpunkt von allem, was mich beim Nachdenken über unsere Gesellschaft beschäftigt. Aber auch im Blick auf mein eigenes Leben. Wenn ich irgendwann mal darauf zurückblicke, oder wenn ich mir unrealistisch vorstelle, ich könnte vielleicht sogar nach meinem Tod einen Blick zurückwerfen, dann interessiert mich die Antwort auf die Frage: Werde ich frei gewesen sein?

Und wann wäre das der Fall?

H.W. Das ist der Fall, wenn die Lebenssituation insgesamt so ist, dass ich meiner eigenen Urteilskraft gemäß denken und leben kann. Und nicht sozusagen von jemand anderem „gedacht“ werde. Das ist das Schlimmste, was es gibt.

M.-L.W. Das geht mir ganz ähnlich. Freiheit bedeutet für mich Selbstbestimmung. Es bedeutet, dass kein anderer Mensch und auch keine Gruppe von Menschen Macht über mich hat oder dass ich nur als Funktion in fremden Plänen vorkomme. Ebenso wenig will ich, dass andere Menschen instrumentalisiert werden.

In einem Unternehmen könnte das mitunter schwierig werden, oder? Schließlich gibt es Hierarchien.

M.-L.W. Das stimmt. Aber diese Hierarchien müssen nicht zwangsläufig mit Machtausübung einhergehen. Hier bei ENTEGA zum Beispiel pflegen wir eine Kultur der Vereinbarung. Über alle Hierarchie- Ebenen hinweg vereinbaren wir Ziele miteinander. Und vorher diskutieren wir darüber. Im Anschluss muss jeder Bereich für sich entscheiden, auf welchem Weg diese Ziele am besten erreicht werden.

H.W. Ich halte gerade solche „Proberäume“ in relativ überschaubaren Einheiten wie Unternehmen für ungeheuer wichtig. Man versucht einfach mal, neue Wege zu gehen. Und schon dadurch verändert sich etwas.

,,Kein Mensch sollte nur als Funktion in den Plänen anderer vorkommen.“
Dr. Marie-Luise Wolff

Glauben Sie, dass das auch für die Gesellschaft insgesamt funktioniert? Sie fordern ja zum Beispiel, dass wir ,,Kultur des Aufhörens“ brauchen und uns vom Prinzip des Wachstums verabschieden sollten, um den Klimawandel zu stoppen.

H.W. Ich „fordere“ eigentlich gar nichts. Ich versuche Anregungen zu geben oder Inspiration. Mir geht es darum, dass wir öfter mal den Mut und die Phantasie haben sollten, ausgetretene Pfade zu verlassen, wenn wir wissen, dass wir auf diesen Wegen nicht weiterkommen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

H.W. Ja, denken Sie zum Beispiel an die Verkehrs- oder Mobilitätswende. Da reden wir immer gerne über Autos. Oder über E-Tankstellen. Und unser Programm heißt dann zum Beispiel: Eine Million öffentliche Ladestationen für E-Autos bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das ist aber eine alte Denke mit ein paar neuen Inhalten. Es geht ja nicht einfach um die Frage, welchen Kraftstoff unsere Autos nutzen. Sondern es geht um die Frage: Wie gestalten wir überhaupt Mobilität in der Zukunft? Müssen wir immer alle immer mobiler werden?

Das scheint für die meisten Menschen eine ausgemachte Sache zu sein. Glauben Sie, dass man die Uhren anhalten oder sogar zurückdrehen kann?

H.W. Na ja, wenn zum Beispiel eine Gemeinde auf dem Land sagt: Wir siedeln hier wieder kleine Lebensmittelgeschäfte an, eröffnen eine Kita und holen den Sportverein zurück, dann ist auf einmal sehr viel weniger Mobilität nötig. Oder man schreibt einen Wettbewerb für Architekten aus mit der Aufgabe: Macht mal Vorschläge für Haltestellen, an denen man es aushalten kann und für Busse, in denen die Fahrt richtig Spaß macht. Dann verändert das sofort etwas im Zusammenleben und damit auch im Mobilitätsverhalten.

M.-L.W. Oder man verlässt als kommunaler Energieversorger den alten Wachstumspfad und entdeckt Geschäftsmodelle, die anderen beim Energiesparen helfen. Wir bei ENTEGA haben uns dazu entschieden, dass unser vorrangiges Ziel eben nicht mehr darin besteht, die verkauften Kilowattstunden an Strom und Gas oder die gelieferten Kubikmeter Wasser zu zählen und daran unseren Geschäftserfolg zu messen. Stattdessen haben wir uns als Ziel vorgenommen, die Energiewende voranzubringen, indem wie den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen immer weiter erhöhen.

,,Viel wichtiger scheint mir, dass wir die Kraft visionärer Narrative besser nutzen.“
Prof. Dr. Harald Welzer

Das funktioniert aber nur, weil Sie mit der Stadt Darmstadt und anderen Landkreisen bzW. Gemeinden Anteilseigner haben, die diesen Kurs unterstützen. Wären Sie eine an der Börse frei gehandelte Aktiengesellschaft, müssten Sie wahrscheinlich mehr klassische Wachstumsziele erreichen.

M.-L.W. Derzeit ist das wohl noch so. Aber auch in der sogenannten freien Wirtschaft ist erkannt worden, dass wir ohne deutlich mehr Klimaschutzanstrengungen den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Es gibt beispielsweise erste Zeichen der Umstellung auf andere Kennzahlen, auch ist das Stichwort der ESG-Kriterien für Investitionen inzwischen in aller Munde. Uns allen wird immer stärker bewusst, dass wir nicht jedes Problem allein mit den Mitteln der Märkte lösen können. Fragen des Gemeinwohls beispielsweise, zu denen der Klimaschutz gehört, brauchen das Agieren des Marktes, aber auch starke Leitplanken, die in der Politik gesetzt werden müssen, und zwar deutlicher als bisher. Es ist gut, wenn wir da neue Wege gehen.

Aber ist es nicht andererseits so, dass wir zu effektivem Klimaschutz am besten und am schnellsten kommen, wenn wir im freien Wettbewerb und technologieoffen nach den richtigen Lösungen suchen?

H.W. Die Erfahrung der zurückliegenden 200 Jahre spricht eher nicht dafür. Der Markt folgt einer expansiven Strategie und erzeugt meist mehr desselben. Wenn kein Öl mehr aus dem Bohrloch kommt, bohrt man eben tiefer. Und wenn das Geld ausgeht, flutet man den Geldmarkt. Echte Alternativen identifizieren wir mit dieser Art Tunnelblick aber nicht. Das war schon bei den Wikingern das Problem, als ihnen die Nahrung ausging. Sie hätten einfach nur Fisch essen müssen. Aber der galt in ihrer Kultur als nicht essbar. So sinnlos stirbt man aus.

Vor Ort: Das Gaskraftwerk springt ein, wenn die Erneuerbaren nicht genügen.

Wenn es der Markt allein nicht richten kann, brauchen wir dann also im Blick auf die notwendige Transformation unserer Gesellschaft mehr ,,Staat“, sprich: Regulierung und mehr Vorschriften? Flugverbote zum Beispiel oder Veggie-Days?

H.W. Nicht unbedingt. Viel wichtiger scheint mir, dass wir die Kraft visionärer Narrative besser nutzen. Das ständige Mahnen und Warnen bringt ganz offenbar nicht viel. Damit motiviert man niemanden zu Veränderung. Und im Wettbewerb mit anderen Narrativen macht man auch eher eine schlechte Figur. Das Wachstumsnarrativ zum Beispiel ist schillernd. Es verspricht dem Einzelnen immer steigenden Wohlstand. Freiheit Geschäftsbericht 30 2021 ENTEGA Das ist wie das Versprechen einer endlosen Reise, die ständig zu neuen Attraktionen führt – eine Erzählung, die weiterhin für viele Menschen sehr verlockend ist. Aber was ist eigentlich das Versprechen der Klimaschützer? Welche Vision haben sie anzubieten, die wirklich verführerisch ist? Auf diesem Gebiet haben insbesondere die jungen Protestlerinnen und Protestler noch einiges nachzuholen.

M.-L.W. Ja, das scheint mir auch so. Ich habe erst neulich im Rahmen eines sogenannten „Girls’ Day“ junge Frauen getroffen, die sich auf dem Arbeitsmarkt umsehen. Da habe ich gefragt, ob sich jemand von ihnen für Technik interessiert. Keine einzige der jungen Frauen hat die Hand gehoben. Den meisten scheint gar nicht bewusst zu sein, wie konkret sie sich für eine bessere Welt einsetzen und wirklich etwas verändern könnten, wenn sie einen technischen Beruf ergreifen würden.

Würden Sie sagen, dass es eine verbreitete Technologiefeindlichkeit gibt?

M.-L.W. Nein, das glaube ich nicht. Wohl aber eine Reihe von Missverständnissen. Zum Beispiel darüber, welche Qualifikationen man im Einzelnen braucht. Es muss zum Beispiel nicht unbedingt eine „Eins“ in Mathematik auf dem Zeugnis stehen, um in einem Technik- Beruf erfolgreich sein zu können. Hier im Versorgungsgebiet etwa müssen wir in den kommenden Jahren Tausende von alten Heizungssystemen modernisieren. Wir müssen kilometerweise Glasfaser-Kabel verlegen, Windräder bauen und Solaranlagen ans Netz bringen. Dabei haben wir es aber mit einer Infrastruktur zu tun, die von unseren Eltern und Großeltern stammt. Es muss also sehr konkret und ganz „hands on“ gearbeitet werden, um die Energiewende noch rechtzeitig zu schaffen. Hier gibt es einen riesigen Personalbedarf und ziemlich tolle Karriere-Möglichkeiten.

Heißt das, wir müssen mehr auf Technologie setzen als auf politische und gesellschaftliche Weichenstellungen?

H.W. Das ist auch so ein Denkfehler, den wir immer wieder machen. Diese Entweder- Oder-Muster. Es muss natürlich beides geben: politische Entscheiderinnen und Entscheider, die sich etwas trauen, aber auch phantasiebegabte Ingenieurinnen und Ingenieure, die sich etwas einfallen lassen.

Die gibt es doch in deutschen Unternehmen reichlich. Und überall lautet die Losung: Mehr Innovation!

H.W. Ja, aber produziert werden vor allem Optimierungen. Das liegt daran, dass man zum Beispiel in den Unternehmen die Strukturen und Denkmuster beibehält, dann aber erwartet, dass plötzlich jemand etwas Neues erfindet. Das funktioniert nur selten. Wichtig wäre, wirklich ergebnisoffene Prozesse zu gestalten, in denen sich die Beschäftigten von bisherigen Pfadabhängigkeiten lösen und frei nachdenken können.

M.-L.W. Ehrlicherweise muss man dazu sagen: Wir sind ein bisschen verdorben worden von dieser „Click-Welt“, in der man nichts riskieren muss, und „schwupps“ hat man ein neues Internet- Unternehmen am Start. Nachhaltiges Wirtschaften ist immer noch das größere Wagnis. Denn es kann natürlich passieren, dass bei einem solchen Ansatz erst einmal nicht das rauskommt, was man sich versprochen hat. Gerade echte Technologiesprünge brauchen – abseits von Computerchips – oft einen langen Atem und hohe Investitionen. Doch auch hier werden wir schneller, auch mit den Methoden des agilen Arbeitens und anderen modernen Arbeitsformen, mit denen wir gute Erfahrungen gesammelt haben. Viele neue Produkte der ENTEGA sind nur dank solch offener Prozesse entstanden.

,,In der Click-Welt sind die Risiken überschaubar. Nachhaltiges Wirtschaften ist immer noch das größere Wagnis.“
Dr. Marie Luise Wolff

Haben wir denn eigentlich genug Zeit, um auf diesem experimentellen Weg weiterzugehen und auf die Überzeugungskraft visionärer Narrative zu vertrauen? Oder brauchen wir nicht doch striktere gesetzliche Weichenstellungen?

H.W. Das Zeit-Argument wird oft gebraucht, um untätig zu bleiben. Nach dem Motto: Es reicht ja doch nicht, dann kann man es auch gleich ganz bleiben lassen. Das halte ich für fatal. Veränderungen erzeugen weitere Veränderungen. Darauf können wir uns verlassen. Und die richtigen Gesetze kann man ja trotzdem machen. Ich bin zum Beispiel sicher, dass Klimaschutz bei der Abwägung bestimmter Rechtsgüter schon sehr bald einen Vorrang-Status erhalten wird.

Auch dann, wenn er in Konflikt mit persönlichen Freiheitsrechten gerät?

H.W. Diesen Konflikt gibt es nur, wenn jemand einen sehr eingeschränkten Freiheitsbegriff hat. Die Idee, zu jeder Zeit und unter allen Umständen tun und lassen zu können, was man will, hat mit einem erwachsenen und aufgeklärten Freiheitsbegriff wenig bis gar nichts zu tun. Wer so denkt, müsste eigentlich davon ausgehen, dass er oder sie die einzig freie Person auf dem Planeten ist. Denn wenn irgendwer sonst denselben Anspruch stellt, sind Konflikte vorprogrammiert und sehr schnell finden wir uns in einer Welt wieder, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Für alle anderen aber gibt es in einer solchen Welt keine Freiheit.

M.-L.W. Mir scheint: Wer sich durch Maßnahmen zum Klimaschutz in ungerechtfertigter Weise in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt, versteht „Freiheit“ oft recht einseitig als Konsumfreiheit. Es kann aber nicht sein, dass wir vom Billig- Schnitzel bis zum 250-km/h-Spurt auf der Autobahn persönliche Vorlieben zum Maß der Dinge erheben, wenn diese Vorlieben in Summe das Überleben der Menschheit gefährden.

Und wer entscheidet, welche ,,Vorlieben“ statthaft sind und welche nicht?

H.W. Das ist ja längst keine Geschmacksfrage mehr. Die Befunde der Wissenschaft zeigen eindeutig, dass wir zu einer anderen Art des Wirtschaftens und des Zusammenlebens finden und insbesondere unsere CO-Emissionen drastisch reduzieren müssen. Das wird ohne eine grundlegende Abkehr vom klassischen Wachstumsparadigma nicht funktionieren.

M.-L.W. Das sehe ich auch so. Das alte Wachstumsparadigma von „schneller, mehr, höher, weiter“ muss sich wandeln, hin zu mehr Nachhaltigkeit, was als neues Wachstumsparadigma zu betrachten ist. Dazu gehört auch, dass wir klar sagen: Eben weil wir die Freiheitsrechte nicht nur für uns, sondern auch für nachfolgende Generationen erhalten wollen, müssen wir – im Sinne des Urteils, das vom Bundesverfassungsgericht gefällt wurde – die Transformation und Modernisierung unserer Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität mit Nachdruck vorantreiben. Politisch im Sinne entsprechender Gesetzgebung, sozial durch Diskurs und Meinungsbildung, aber auch ökonomisch, indem wir die Messund Zielgrößen für unser wirtschaftliches Handeln anpassen.

H.W. Billig war echte Transformation noch nie zu haben. Sie bedeutet immer Konflikt und sie bedeutet immer auch Verlust von Privilegien. Das kann man durchaus vergleichen mit früheren sozialen Transformationen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts mag es für eine Upper-Class-Familie aus England ganz normal gewesen sein, dass beispielsweise bei der Ausrichtung einer Hochzeit auf einer Kolonialfarm in Afrika Dutzende oder gar Hunderte von Bediensteten im Einsatz waren, die de facto ein Leben als Leibeigene führten. Und ganz sicher waren schon damals viele der Ansicht, dass man diese Dinge auf keinen Fall ändern sollte. Weil das ja in die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung eingreift.

Frau Wolff, Herr Welzer – vielen Dank für das Gespräch.

Im Wohnzimmer zur Terrasse hin steht sein Klavier bei einem dreifüßigen Schemel, Eiche, lederne Sitzfläche, kreisrund von Polsternägeln umrahmt.

Der Großvater trägt den Schemel am Abend auf die Terrasse, setzt sich darauf, sein runder Rücken strafft sich.

Mit Tippelschrittchen stößt er sich vom Boden ab, dreht sich, langsam, schneller, und bevor ich fürchten muss, er verliere das Gleichgewicht, stoppt er, da, wo die rote Glut der untergehenden Sonne ihn meinem Auge entzieht, schmerzhaftes Gegenlicht löst ihn von meiner Netzhaut.

Das ist der Sonnengruß, sagt er und setzt den Schemel ans Klavier.

Wilhelm Kirchgässner