Herr Welzer, was verbinden Sie persönlich
mit dem Begriff der Freiheit?
H.W. Die Freiheit steht im Mittelpunkt
von allem, was mich beim Nachdenken
über unsere Gesellschaft beschäftigt.
Aber auch im Blick auf mein eigenes
Leben. Wenn ich irgendwann mal darauf
zurückblicke, oder wenn ich mir unrealistisch
vorstelle, ich könnte vielleicht
sogar nach meinem Tod einen Blick
zurückwerfen, dann interessiert mich
die Antwort auf die Frage: Werde ich
frei gewesen sein?
Und wann wäre das der Fall?
H.W. Das ist der Fall, wenn die Lebenssituation
insgesamt so ist, dass ich meiner
eigenen Urteilskraft gemäß denken und
leben kann. Und nicht sozusagen von
jemand anderem „gedacht“ werde. Das
ist das Schlimmste, was es gibt.
M.-L.W. Das geht mir ganz ähnlich.
Freiheit bedeutet für mich Selbstbestimmung.
Es bedeutet, dass kein anderer
Mensch und auch keine Gruppe von
Menschen Macht über mich hat oder
dass ich nur als Funktion in fremden
Plänen vorkomme. Ebenso wenig will
ich, dass andere Menschen instrumentalisiert
werden.
In einem Unternehmen könnte das
mitunter schwierig werden, oder?
Schließlich gibt es Hierarchien.
M.-L.W. Das stimmt. Aber diese Hierarchien
müssen nicht zwangsläufig mit
Machtausübung einhergehen. Hier bei
ENTEGA zum Beispiel pflegen wir eine
Kultur der Vereinbarung. Über alle Hierarchie-
Ebenen hinweg vereinbaren wir
Ziele miteinander. Und vorher diskutieren
wir darüber. Im Anschluss muss
jeder Bereich für sich entscheiden, auf
welchem Weg diese Ziele am besten
erreicht werden.
H.W. Ich halte gerade solche „Proberäume“
in relativ überschaubaren Einheiten
wie Unternehmen für ungeheuer
wichtig. Man versucht einfach mal, neue
Wege zu gehen. Und schon dadurch
verändert sich etwas.
,,Kein Mensch sollte
nur als Funktion in
den Plänen anderer
vorkommen.“
Dr. Marie-Luise Wolff
Glauben Sie, dass das auch für die
Gesellschaft insgesamt funktioniert?
Sie fordern ja zum Beispiel,
dass wir ,,Kultur des Aufhörens“
brauchen und uns vom Prinzip des
Wachstums verabschieden sollten,
um den Klimawandel zu stoppen.
H.W. Ich „fordere“ eigentlich gar nichts.
Ich versuche Anregungen zu geben oder
Inspiration. Mir geht es darum, dass
wir öfter mal den Mut und die Phantasie
haben sollten, ausgetretene Pfade zu
verlassen, wenn wir wissen, dass wir auf
diesen Wegen nicht weiterkommen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
H.W. Ja, denken Sie zum Beispiel an
die Verkehrs- oder Mobilitätswende.
Da reden wir immer gerne über Autos.
Oder über E-Tankstellen. Und unser
Programm heißt dann zum Beispiel:
Eine Million öffentliche Ladestationen
für E-Autos bis zu einem bestimmten
Zeitpunkt. Das ist aber eine alte Denke
mit ein paar neuen Inhalten. Es geht
ja nicht einfach um die Frage, welchen
Kraftstoff unsere Autos nutzen. Sondern
es geht um die Frage: Wie gestalten wir
überhaupt Mobilität in der Zukunft?
Müssen wir immer alle immer mobiler
werden?
Das scheint für die meisten Menschen
eine ausgemachte Sache
zu sein. Glauben Sie, dass man die
Uhren anhalten oder sogar zurückdrehen
kann?
H.W. Na ja, wenn zum Beispiel eine
Gemeinde auf dem Land sagt: Wir siedeln
hier wieder kleine Lebensmittelgeschäfte
an, eröffnen eine Kita und holen den
Sportverein zurück, dann ist auf einmal
sehr viel weniger Mobilität nötig. Oder
man schreibt einen Wettbewerb für
Architekten aus mit der Aufgabe: Macht
mal Vorschläge für Haltestellen, an
denen man es aushalten kann und für
Busse, in denen die Fahrt richtig Spaß
macht. Dann verändert das sofort etwas
im Zusammenleben und damit auch im
Mobilitätsverhalten.
M.-L.W. Oder man verlässt als kommunaler
Energieversorger den alten Wachstumspfad
und entdeckt Geschäftsmodelle,
die anderen beim Energiesparen
helfen. Wir bei ENTEGA haben uns dazu
entschieden, dass unser vorrangiges
Ziel eben nicht mehr darin besteht, die
verkauften Kilowattstunden an Strom
und Gas oder die gelieferten Kubikmeter
Wasser zu zählen und daran unseren
Geschäftserfolg zu messen. Stattdessen
haben wir uns als Ziel vorgenommen,
die Energiewende voranzubringen, indem
wie den Anteil von Energie aus
erneuerbaren Quellen immer weiter
erhöhen.
,,Viel wichtiger
scheint mir, dass wir
die Kraft visionärer
Narrative besser
nutzen.“
Prof. Dr. Harald Welzer
Das funktioniert aber nur, weil Sie
mit der Stadt Darmstadt und anderen
Landkreisen bzW. Gemeinden
Anteilseigner haben, die diesen Kurs
unterstützen. Wären Sie eine an der
Börse frei gehandelte Aktiengesellschaft,
müssten Sie wahrscheinlich
mehr klassische Wachstumsziele
erreichen.
M.-L.W. Derzeit ist das wohl noch so.
Aber auch in der sogenannten freien
Wirtschaft ist erkannt worden, dass wir
ohne deutlich mehr Klimaschutzanstrengungen
den Ast absägen, auf dem
wir sitzen. Es gibt beispielsweise erste
Zeichen der Umstellung auf andere
Kennzahlen, auch ist das Stichwort der
ESG-Kriterien für Investitionen inzwischen
in aller Munde. Uns allen wird
immer stärker bewusst, dass wir nicht
jedes Problem allein mit den Mitteln
der Märkte lösen können. Fragen des
Gemeinwohls beispielsweise, zu denen
der Klimaschutz gehört, brauchen das
Agieren des Marktes, aber auch starke
Leitplanken, die in der Politik gesetzt
werden müssen, und zwar deutlicher
als bisher. Es ist gut, wenn wir da neue
Wege gehen.
Aber ist es nicht andererseits so,
dass wir zu effektivem Klimaschutz
am besten und am schnellsten
kommen, wenn wir im freien Wettbewerb
und technologieoffen nach
den richtigen Lösungen suchen?
H.W. Die Erfahrung der zurückliegenden
200 Jahre spricht eher nicht dafür. Der
Markt folgt einer expansiven Strategie
und erzeugt meist mehr desselben. Wenn
kein Öl mehr aus dem Bohrloch kommt,
bohrt man eben tiefer. Und wenn das
Geld ausgeht, flutet man den Geldmarkt.
Echte Alternativen identifizieren wir
mit dieser Art Tunnelblick aber nicht.
Das war schon bei den Wikingern das
Problem, als ihnen die Nahrung ausging.
Sie hätten einfach nur Fisch essen müssen.
Aber der galt in ihrer Kultur als
nicht essbar. So sinnlos stirbt man aus.
Vor Ort: Das Gaskraftwerk
springt ein, wenn die
Erneuerbaren nicht genügen.
Wenn es der Markt allein nicht richten
kann, brauchen wir dann also
im Blick auf die notwendige Transformation
unserer Gesellschaft
mehr ,,Staat“, sprich: Regulierung
und mehr Vorschriften? Flugverbote
zum Beispiel oder Veggie-Days?
H.W. Nicht unbedingt. Viel wichtiger
scheint mir, dass wir die Kraft visionärer
Narrative besser nutzen. Das ständige
Mahnen und Warnen bringt ganz offenbar
nicht viel. Damit motiviert man niemanden
zu Veränderung. Und im Wettbewerb
mit anderen Narrativen macht
man auch eher eine schlechte Figur. Das
Wachstumsnarrativ zum Beispiel ist
schillernd. Es verspricht dem Einzelnen
immer steigenden Wohlstand.
Freiheit Geschäftsbericht 30 2021 ENTEGA
Das ist wie das Versprechen einer
endlosen Reise, die ständig zu neuen
Attraktionen führt – eine Erzählung,
die weiterhin für viele Menschen sehr
verlockend ist. Aber was ist eigentlich
das Versprechen der Klimaschützer?
Welche Vision haben sie anzubieten,
die wirklich verführerisch ist? Auf diesem
Gebiet haben insbesondere die
jungen Protestlerinnen und Protestler
noch einiges nachzuholen.
M.-L.W. Ja, das scheint mir auch so.
Ich habe erst neulich im Rahmen eines
sogenannten „Girls’ Day“ junge Frauen
getroffen, die sich auf dem Arbeitsmarkt
umsehen. Da habe ich gefragt, ob sich
jemand von ihnen für Technik interessiert.
Keine einzige der jungen Frauen
hat die Hand gehoben. Den meisten
scheint gar nicht bewusst zu sein, wie
konkret sie sich für eine bessere Welt
einsetzen und wirklich etwas verändern
könnten, wenn sie einen technischen
Beruf ergreifen würden.
Würden Sie sagen, dass es eine
verbreitete Technologiefeindlichkeit
gibt?
M.-L.W. Nein, das glaube ich nicht. Wohl
aber eine Reihe von Missverständnissen.
Zum Beispiel darüber, welche Qualifikationen
man im Einzelnen braucht.
Es muss zum Beispiel nicht unbedingt
eine „Eins“ in Mathematik auf dem
Zeugnis stehen, um in einem Technik-
Beruf erfolgreich sein zu können.
Hier im Versorgungsgebiet etwa müssen
wir in den kommenden Jahren Tausende
von alten Heizungssystemen modernisieren.
Wir müssen kilometerweise
Glasfaser-Kabel verlegen, Windräder
bauen und Solaranlagen ans Netz bringen.
Dabei haben wir es aber mit einer
Infrastruktur zu tun, die von unseren
Eltern und Großeltern stammt. Es muss
also sehr konkret und ganz „hands on“
gearbeitet werden, um die Energiewende
noch rechtzeitig zu schaffen. Hier gibt
es einen riesigen Personalbedarf und
ziemlich tolle Karriere-Möglichkeiten.
Heißt das, wir müssen mehr
auf Technologie setzen als auf
politische und gesellschaftliche
Weichenstellungen?
H.W. Das ist auch so ein Denkfehler, den
wir immer wieder machen. Diese Entweder-
Oder-Muster. Es muss natürlich
beides geben: politische Entscheiderinnen
und Entscheider, die sich etwas
trauen, aber auch phantasiebegabte
Ingenieurinnen und Ingenieure, die sich
etwas einfallen lassen.
Die gibt es doch in deutschen Unternehmen
reichlich. Und überall lautet
die Losung: Mehr Innovation!
H.W. Ja, aber produziert werden vor
allem Optimierungen. Das liegt daran,
dass man zum Beispiel in den Unternehmen
die Strukturen und Denkmuster
beibehält, dann aber erwartet, dass
plötzlich jemand etwas Neues erfindet.
Das funktioniert nur selten. Wichtig
wäre, wirklich ergebnisoffene Prozesse
zu gestalten, in denen sich die Beschäftigten
von bisherigen Pfadabhängigkeiten
lösen und frei nachdenken können.
M.-L.W. Ehrlicherweise muss man
dazu sagen: Wir sind ein bisschen verdorben
worden von dieser „Click-Welt“,
in der man nichts riskieren muss, und
„schwupps“ hat man ein neues Internet-
Unternehmen am Start. Nachhaltiges
Wirtschaften ist immer noch das größere
Wagnis. Denn es kann natürlich passieren,
dass bei einem solchen Ansatz erst
einmal nicht das rauskommt, was man
sich versprochen hat. Gerade echte Technologiesprünge
brauchen – abseits von
Computerchips – oft einen langen Atem
und hohe Investitionen. Doch auch
hier werden wir schneller, auch mit den
Methoden des agilen Arbeitens und
anderen modernen Arbeitsformen, mit
denen wir gute Erfahrungen gesammelt
haben. Viele neue Produkte der ENTEGA
sind nur dank solch offener Prozesse
entstanden.
,,In der Click-Welt sind die
Risiken überschaubar.
Nachhaltiges Wirtschaften
ist immer noch das
größere Wagnis.“
Dr. Marie Luise Wolff
Haben wir denn eigentlich genug
Zeit, um auf diesem experimentellen
Weg weiterzugehen und auf die
Überzeugungskraft visionärer
Narrative zu vertrauen? Oder brauchen
wir nicht doch striktere
gesetzliche Weichenstellungen?
H.W. Das Zeit-Argument wird oft
gebraucht, um untätig zu bleiben. Nach
dem Motto: Es reicht ja doch nicht, dann
kann man es auch gleich ganz bleiben
lassen. Das halte ich für fatal. Veränderungen
erzeugen weitere Veränderungen.
Darauf können wir uns verlassen. Und
die richtigen Gesetze kann man ja trotzdem
machen. Ich bin zum Beispiel sicher,
dass Klimaschutz bei der Abwägung
bestimmter Rechtsgüter schon sehr bald
einen Vorrang-Status erhalten wird.
Auch dann, wenn er in Konflikt mit
persönlichen Freiheitsrechten
gerät?
H.W. Diesen Konflikt gibt es nur, wenn
jemand einen sehr eingeschränkten
Freiheitsbegriff hat. Die Idee, zu jeder
Zeit und unter allen Umständen tun
und lassen zu können, was man will, hat
mit einem erwachsenen und aufgeklärten
Freiheitsbegriff wenig bis gar nichts
zu tun. Wer so denkt, müsste eigentlich
davon ausgehen, dass er oder sie die
einzig freie Person auf dem Planeten ist.
Denn wenn irgendwer sonst denselben
Anspruch stellt, sind Konflikte vorprogrammiert
und sehr schnell finden wir
uns in einer Welt wieder, in der nur noch
das Recht des Stärkeren gilt. Für alle
anderen aber gibt es in einer solchen
Welt keine Freiheit.
M.-L.W. Mir scheint: Wer sich durch
Maßnahmen zum Klimaschutz in
ungerechtfertigter Weise in seiner
persönlichen Freiheit eingeschränkt
fühlt, versteht „Freiheit“ oft recht
einseitig als Konsumfreiheit. Es kann
aber nicht sein, dass wir vom Billig-
Schnitzel bis zum 250-km/h-Spurt auf
der Autobahn persönliche Vorlieben
zum Maß der Dinge erheben, wenn diese
Vorlieben in Summe das Überleben der
Menschheit gefährden.
Und wer entscheidet, welche
,,Vorlieben“ statthaft sind und
welche nicht?
H.W. Das ist ja längst keine Geschmacksfrage
mehr. Die Befunde der Wissenschaft
zeigen eindeutig, dass wir zu einer anderen
Art des Wirtschaftens und des Zusammenlebens
finden und insbesondere
unsere CO-Emissionen drastisch reduzieren
müssen. Das wird ohne eine grundlegende
Abkehr vom klassischen Wachstumsparadigma
nicht funktionieren.
M.-L.W. Das sehe ich auch so. Das alte
Wachstumsparadigma von „schneller,
mehr, höher, weiter“ muss sich wandeln,
hin zu mehr Nachhaltigkeit, was als
neues Wachstumsparadigma zu betrachten
ist. Dazu gehört auch, dass wir klar
sagen: Eben weil wir die Freiheitsrechte
nicht nur für uns, sondern auch für nachfolgende
Generationen erhalten wollen,
müssen wir – im Sinne des Urteils, das
vom Bundesverfassungsgericht gefällt
wurde – die Transformation und Modernisierung
unserer Gesellschaft in Richtung
Klimaneutralität mit Nachdruck
vorantreiben. Politisch im Sinne entsprechender
Gesetzgebung, sozial durch
Diskurs und Meinungsbildung, aber
auch ökonomisch, indem wir die Messund
Zielgrößen für unser wirtschaftliches
Handeln anpassen.
H.W. Billig war echte Transformation
noch nie zu haben. Sie bedeutet immer
Konflikt und sie bedeutet immer auch
Verlust von Privilegien. Das kann man
durchaus vergleichen mit früheren
sozialen Transformationen. Noch zu
Beginn des 20. Jahrhunderts mag es
für eine Upper-Class-Familie aus England
ganz normal gewesen sein, dass beispielsweise
bei der Ausrichtung einer
Hochzeit auf einer Kolonialfarm in
Afrika Dutzende oder gar Hunderte von
Bediensteten im Einsatz waren, die
de facto ein Leben als Leibeigene führten.
Und ganz sicher waren schon damals
viele der Ansicht, dass man diese Dinge
auf keinen Fall ändern sollte. Weil
das ja in die Freiheit der persönlichen
Lebensgestaltung eingreift.
Frau Wolff, Herr Welzer – vielen
Dank für das Gespräch.